Bösartiger Witz trifft auf Tiefgründigkeit
Eine Kritik zur Gianni-Schicchi-Oper
Mittwoch, 12. Mai 2021. Es ist kurz vor 19 Uhr. In wenigen Minuten startet die Premiere von Giacomo Puccinis berühmter komischer Oper Gianni Schicchi in der Regie von Anja Kühnhold am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Doch statt in eleganter Kleidung im Theater zu sitzen, der Zeitansage zu lauschen, die uns mitteilt, dass die Vorstellung gleich beginnt und wir unsere Plätze einnehmen sollen, und dann zuzusehen, wie sich der Saal allmählich füllt, sitze ich gemütlich in Jogginghosen auf dem heimischen Sofa – den Blick auf den Fernseher gerichtet.
Corona und Kultur
Der Kultursektor ist von den Auswirkungen der Corona-Pandemie schwer betroffen: Veranstaltungen wurden abgesagt, zahlreiche Kunstschaffende und Kultureinrichtungen gerieten in existenzielle Bedrängnis. Doch das Staatstheater Karlsruhe reagiert auf die unvorhergesehenen Herausforderungen mit kreativen Lösungen, um gerade in dieser Zeit weiterhin Kultur erlebbar zu machen. Oper trotz Corona, aber unter neuen Bedingungen: Unter diesem Motto bringt das Staatstheater Gianni Schicchi zur Premiere als Livestream und damit direkt in die eigenen vier Wände auf den Bildschirm. Das gesamte Ensemble und das künstlerische Team der Oper sind Mitglieder des Staatstheaters, sodass es sich um eine komplette Inhouse-Produktion handelt.
Eine komische Familiengeschichte
Die Vorstellung beginnt mit einer Einführung in die Handlung der einaktigen Oper, die 1918 uraufgeführt wurde und heute zu den Klassikern des Opernrepertoires gehört. Gianni Schicchi basiert auf einer Episode aus Dantes Göttlicher Komödie und einem Libretto von Giovacchino Forzano. Eines vorweg: Es geht um Drama – eine Menge Drama, verpackt in sechzig Minuten. Ich reise zurück ins mittelalterliche Florenz und finde mich inmitten der Familie Donati wieder, die bittere Tränen vergießt, aber nicht wegen des Todes ihres Onkels Buoso. Die Familie trauert um sein überaus großes Vermögen, das Buoso dem Kloster vermacht hat und die Donatis somit mit leeren Händen zurücklässt. Nun muss ein Plan her: Zum Missfallen seiner Verwandten zieht Rinuccio den smarten Vater seiner Geliebten Lauretta, Gianni Schicchi, hinzu. Diesem gelingt es, den Notar zu täuschen und ihm ein neues Testament zu diktieren, indem er vorgibt, der reiche, todkranke Buoso zu sein. Ende gut, alles gut – aber nicht für die Donatis. Der skrupellose Gianni Schicchi, der sich als Buoso ausgibt, setzt sich als Haupterbe ein und wirft die gierigen Donatis aus dem Haus.
Das offene Bühnenbild
Nach der Einführung fährt die Kamera durch das Orchester, das wegen der Pandemie in reduzierter Besetzung auftritt. Mit dem Beginn der Musik hebt sich der Vorhang und meine Augen analysieren das Bühnenbild, das aus verschiedenen Podesten besteht. Mit Puccinis Oper Gianni Schicchi stellt sich Sarah Marlène Kirsch, Jahrgang 1993, dem Publikum zum ersten Mal als Bühnenbildnerin auf der großen Bühne vor. In dieser Operninszenierung arbeitet sie mit unterschiedlichen Höhen, die die verschiedenen Etagen vom Keller bis zum obersten Stockwerk symbolisieren. Das Bühnenbild soll nicht filmrealistisch wirken, sondern die Räume andeuten. Auffällig ist ein über drei Meter langes Porträtfoto des kürzlich verstorbenen Buoso, das auf einem der Podeste hängt. Mit seinem grimmigen Blick, der hochgezogenen Augenbraue und der gerunzelten Stirn scheint er – im wahrsten Sinne des Wortes – „von oben“ auf das Geschehen in seinem Haus zu schauen.

Die Donatis – eine schrecklich nicht nette Familie
Die Familie Donati ist auf der Bühne verteilt: Der Eine entspannt sich in der Badewanne, die Andere packt ihre Einkaufstüte mit edlen Kleidern aus, bis der junge Rinuccio Donati die Bühne betritt und alle Augen auf ihn gerichtet sind, besonders die seiner Tante Zita. Plötzliche Stille. Das Orchester verstummt und Rinuccio beginnt zu schluchzen. Schnell wird klar: Buoso ist verstorben. Zita, die Cousine von Buoso, steht die Freude ins Gesicht geschrieben, aber nur für einen Moment, bis sie, wie der Rest der habgierigen Familie, scheinheilig das Ableben des reichen Buoso betrauert. Die in Florenz kursierenden Gerüchte über sein Vermächtnis unterbrechen die heuchlerische Anteilnahme der Donatis, denn „wenn Buoso hin ist, gibt’s was für die Mönche“. Die Kameraperspektiven und Einstellungsgrößen im Livestream heben das bestürzte Gesicht der kalifornischen Altistin und Zita-Darstellerin Ariana Lucas hervor, die eine großartige darstellerische Leistung erbringt. Die Donatis sind schockiert über das Gerücht, Buoso hätte sein gesamtes Vermögen dem Kloster vermacht. Ohne Zeit zu verlieren, durchsuchen sie das ganze Haus nach dem Testament. Ein Gefühl der Aufregung überkommt mich. Dieses wird durch die Tatsache verstärkt, dass einzelne Familienmitglieder glauben, das Testament gefunden zu haben, was sich letztlich als falsch herausstellt. Nach Sekunden fieberhafter Beteiligung meinerseits findet Rinuccio schließlich das Testament. Es folgt ein emotionaler Gesang: Rinuccio hofft, dass seine Tante Zita ihm dank Buosos Vermächtnis endlich erlaubt, seine geliebte Lauretta, Gianni Schicchis Tochter, zu heiraten. Auf die Hoffnung folgt die bittere Enttäuschung, musikalisch untermalt von einem leidvollen und entsetzten Aufschrei der Donatis: Das Gerücht erweist sich als knallharte Wahrheit. Wie dieser Moment der Desillusion und Fassungslosigkeit aussehen muss, verdeutlicht eine Großaufnahme von Simone, Buosos Cousin, mit weit aufgerissenen Augen und Mund. Im Staatstheater Karlsruhe kochen die Emotionen über und ein Chor der enttäuschten Hinterbliebenen setzt ein: „Haha! Seht doch, ein Donati! Er dachte, er kriegt das Erbe! Lacht, Brüder, lacht ihn aus!“

Not macht erfinderisch
Die Donatis, getrieben von ihrer Gier, geben die Hoffnung nicht auf und fragen sich, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, das Testament zu ändern – es zu ihren Gunsten zu „verbessern“. Die Antwort darauf lautet: Gianni Schicchi. Musikalisch arbeitet Puccini mit wiederkehrenden kurzen Motiven, wie auch hier zu hören ist: Die Frage seiner Verwandten, wer sie denn nun retten könne, beantwortet Rinuccio mit einem Motiv, das aus vier Tönen und den entsprechenden vier Silben besteht, nämlich „Gianni Schicchi“. Doch dieser ist in den Augen der Donatis nur ein armer Einwanderer. „Schluss mit den Vorurteilen“, fordert Rinuccio und hält eine flammende Rede für Schicchi mit dem anspruchsvollen Stück Avete torto!… Firenze e come un albero fiorito. Dieses führt zweimal zum hohen B, doch der in Mexiko geborene Tenor Eleazar Rodriguez beeindruckt mit seiner Gesangsdarbietung des liebestrunkenen Rinuccio und glänzt in der Höhe. Ich bekomme eine Gänsehaut, als das Orchester das melodische Thema der weltberühmten Arie O mio babbino caro spielt und ich Rinuccios ins Deutsche übersetzte Worte auf mich wirken lasse: „Florenz ist wie ein blühender Baum, der auf der Piazza dei Signori wächst. Seine Wurzeln saugen neue Kraft aus den Tälern der Umgebung.“ So alt die Handlung auch sein mag – die Oper spielt schließlich im Mittelalter – die intolerante Mentalität der Donatis und Rinuccios erfrischende Reaktion erscheinen mir aktueller denn je.
Gianni Schicchi bringt frischen Wind
Endlich betritt der wahre Spielmacher die Bühne: der raffinierte Gianni Schicchi, begleitet von seiner Tochter Lauretta. Die Donatis heißen sie nicht willkommen – im Gegenteil, Zita fordert sie zum Verschwinden auf. Hier wird mehr als deutlich, wer Kontrahentin und Kontrahent ist: Zita Donati und Gianni Schicchi. Dies wird vor allem durch ein Detail unterstützt: Während der Rest der Familien Kleidung in schlichten Tönen wie Schwarz, Grau oder Weiß trägt, wählt Elisabeth Richter, die seit Anfang 2020 Kostümdirektorin am Staatstheater Karlsruhe ist, für Zita Donati und Gianni Schicchi leuchtende Farben: Gelb, Blau und Rot. In der herzzerreißenden Arie O mio babbino caro droht Lauretta ihrem Vater mit Selbstmord, wenn er nicht hilft, das Vermächtnis und damit die Hochzeit zu retten, und offenbart ihm, dass sie bereits ein Kind mit Rinuccio erwartet. In Puccinis temperamentvoller und temporeicher Oper schafft Laurettas flehender Bittgesang an ihren Vater einen lyrischen und emotionalen Ruhepunkt im Werk. Die koreanische Sopranistin Hye Jung Lee verleiht dem Seelenschmerz der hoffnungslos verliebten Lauretta Ausdruck und verzaubert mit ihrer zarten und zugleich kraftvollen Stimme. Lauretta gelingt es, das Herz ihres Vaters mit ihrem gefühlvollen Gesang, hinter dem sich durchaus eine Portion Raffinesse verbirgt, zu erweichen. Dieser wiederum schafft es, den Arzt, der Buoso untersuchen will, loszuwerden, indem er seine Stimme von einem anderen Zimmer aus verstellt und sich als der kranke Buoso ausgibt, dem es jedoch wieder bessergeht – und das ist die Geburtsstunde des illegalen, aber genialen Plans.
Der tiefe Fall der Donatis
Da noch nicht bekannt ist, dass der reiche Onkel verstorben ist, will der gerissene Schicchi als Buoso „verkleidet“ auf dem Sterbebett liegen und dem Notar ein neues Testament diktieren. Ein Kampf um das Erbe beginnt: Es ist ein Vergnügen, den Verwandten dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig anstacheln, um aus dem Vermächtnis das Beste für sich herauszuholen. Aus Feindschaft wird „Freundschaft“: Die Familienmitglieder konkurrieren miteinander, und plötzlich ist Schicchi seinerseits umgarnt und gewinnt immer mehr Macht. Der Bariton Armin Kolarczyk verleiht dem geistreichen Titelhelden mit seinem warm timbrierten Organ in den Höhen und voluminösen Tiefen einen unverkennbaren Charakter. Schicchis äußerst riskanter Plan geht auf: Vor dem Notar teilt er das Vermögen unter den Verwandten auf, aber die wertvollsten Besitztümer vermacht er sich selbst, dem „besten Freund“ von Buoso. Die Donatis toben vor Wut, decken den Betrug aber nicht auf, denn nicht nur der Testamentsfälscher, sondern auch seine Verbündeten würden mit dem Verlust einer Hand und der Verbannung bestraft werden. Als die Donatis ihren Zorn an Schicchi auslassen wollen, verjagt er sie aus dem Haus – seinem neuen Heim. Nur die glücklich Verliebten, Lauretta und Rinuccio, bleiben zurück und feiern ihre Liebe mit einem energischen Höhepunkt als gesangliches Finale. Ein unsagbar zufriedenstellender Anblick.

Die Herausforderung einer Online-Übertragung mit Bravour gemeistert
Dem Staatstheater Karlsruhe gelingt mit seiner Inszenierung von Gianni Schicchi eine musikalisch und szenisch herausragende Aufführung, die angesichts des humoristischen Stoffes gerade in Zeiten der Pandemie mehr als willkommen erscheint. Das Theater begeistert mit einer Oper, die ein zeitloses Thema aufgreift: die Vererbung von Privilegien, aber auch die Sicherung von Privilegien durch Korruption sowie das abgeschottete Leben wohlhabender Familien, die Menschen unterhalb ihres Standes oft ausschließen. Ein interessantes Detail, das diese Zeitlosigkeit unterstreicht, ist die Verwendung moderner Geräte, nämlich Handys, in einer Handlung, die im Jahr 1299 spielt.
Was gefällt, bleibt bekanntlich in Erinnerung – in diesem Fall nicht zuletzt dank der erstklassigen Leistung des Ensembles und des smarten Gianni Schicchi, der sich am Ende mit einem Augenzwinkern direkt an das Online-Publikum wendet und es bittet, ihm seinen Betrug zu verzeihen. Er habe gesündigt und würde nun, wie Dante einst in seiner Göttlichen Komödie schrieb, wohl in der Hölle landen. Ja, ich verzeihe Schicchi, vor allem, weil er als Titelfigur auf wesentliche Themen wie Diskriminierung und Klassengesellschaft aufmerksam macht. Auch wenn das Ensemble bei der Verbeugung nicht in mein glückliches Gesicht schauen kann und kein üblicher Applaus zu hören ist, wäre er sicherlich ausgesprochen laut gewesen.