Der Wert des Farblosen

Eine Kunstrezension


Angenommen, Sie möchten Ihre künstlerische Ader in der Malerei ausleben, aber Ihre Palette ist auf Schwarz, Weiß und Grau beschränkt. Nun stellen Sie sich die Frage: Ist Farbe überhaupt wegzudenken? Die Antwort auf diese Frage finde ich im Kunstpalast in Düsseldorf. Die Ausstellung „Black & White – Von Dürer bis Eliasson“ bringt zum Vorschein, wie reizvoll es ist, in der Kunst auf Farbe zu verzichten.

Bereits im 14. Jahrhundert waren Schwarz-, Weiß- und Grautöne von großer Bedeutung. Die Künstler*innen waren fasziniert von den Möglichkeiten einer Kunst ohne Farbe. In der monochromen Malerei beschränkten sie sich auf einen Farbton und hielten die zentrale Szene ihrer Gemälde in Farbe, sodass sich die Betrachter*innen auf den farbigen Bereich konzentrierten. Die religiösen Kunstwerke in diesem Bereich entstanden zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert. Die sakrale Monochromie bildete innerhalb eines Gemäldes konkrete Kontraste zu farbigen Darstellungen, um inhaltliche Bezüge oder Hierarchien zu betonen. Auf diese Weise wurde die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen auf bestimmte Botschaften gelenkt, die im Kunstwerk enthalten waren.

Im Laufe der Jahrhunderte fanden die Auftraggeber auch Gefallen an der monochromen Malerei. Der Begriff  „Grisaille“ (franz. für Eintönigkeit) setzte sich für jegliche Art von Ton-in-Ton-Malerei durch. Insbesondere Glasmalereien wurden in Grisaille gemalt, d.h. ausschließlich in Grau, Weiß und Schwarz. Die Malerei mit Grisaille basiert auf akzentuiertem Licht und Schatten, wodurch Differenzierungen innerhalb des Gemäldes erkannt werden können. Objekte und Personen in Gemälden wirken dadurch täuschend echt. Es entsteht der Eindruck von Skulpturen, die vor einem zu stehen scheinen.

© „Ballettprobe auf der Bühne“, Edgar Degas, 1874

Die feinfühlig gemalte Inneneinrichtung der Räume erweckt auch den Eindruck von aus dem Bild herausragenden Objekten. Mit der Imitation von dreidimensionalen Skulpturen auf der flachen Leinwand trat die Malerei in Konkurrenz zur Bildhauerei. Die perfektionierte Ölmalerei erlaubte es den Künstler*innen, verschiedene Oberflächen mit hoher Detailgenauigkeit wiederzugeben.

Bereits die ersten Räume dieser Ausstellung erlaubten mir, zwei Erkenntnisse festzuhalten. Der Einsatz von Farbe hat eine wichtige Wirkung auf die Betrachter*innen, denn Farbe lenkt unsere Aufmerksamkeit und bestimmt unser Denken. Wenn ein eintöniges Gemälde nur einen Farbbereich enthält, nimmt unser Gehirn diesen als wichtig wahr und untersucht den Grund für seine Bedeutung. Aber auch der Verzicht auf Farben spielt eine entscheidende Rolle. Er erzeugt von Anfang an eine gewisse Grundstimmung, da wir Farblosigkeit mit Melancholie und etwas Mysteriösem assoziieren.

In der Installation „The Collector’s House“ des belgischen Künstlers Hans Op de Beeck werde ich mit der zweiten Erkenntnis konfrontiert. Beim Betreten tauche ich in eine fremde, völlig grau gefärbte Welt ein. Hier scheint die Zeit stillzustehen. Alle Figuren sehen aus, als seien sie zu Stein geworden. Die Abwesenheit aller Farben erzeugt eine melancholische Stimmung, und ich stelle mir die Frage: Was ist hier geschehen? Doch anstatt mir den Kopf darüber zu zerbrechen, lasse ich das Geschehen – oder besser gesagt das Nicht-Geschehen – auf mich einwirken. Seltsamerweise fühle ich mich nicht unbehaglich, weil ich merke, dass nicht alles grau ist. Die Blumen sind weiß, genau wie die Decke. Und das Wichtigste: Ich bin in Farbe. Das gibt mir das Gefühl, dass in allem Schlechten Gutes steckt.

© „The Collector’s House“, Hans Op de Beeck, 2018, Museum Kunstpalast Düsseldorf

Im „Room for one colour“ des dänisch-isländischen Künstlers Olafur Eliasson ändert sich dieses Gefühl schlagartig. Monofrequente Natriumdampflampen tauchen einen leeren Raum in ein kräftiges, gelbes Licht. Dadurch verschwinden alle anderen Farben und die Menschen erscheinen in grauen Figuren. Ich erfahre die Farblosigkeit am eigenen Leib. Hier sind wir alle gleich, es gibt weder Vorurteile noch Eitelkeiten. In dieser Lichtinstallation stelle ich mir die Fragen: Was ist Wirklichkeit und wie nehmen wir sie wahr?

© „Room for one colour“, Olafur Eliasson, 2018

Obwohl die Farbe Grau Bedeutungslosigkeit symbolisiert, spürte ich sie in beiden Räumen nicht. Die Ausstellung „Black & White“ vermittelt den Besucherinnen und Besuchern auf anschauliche und experimentelle Weise die Wertschätzung von Farbe und ein besseres Verständnis von Farblosigkeit. Nach meinem Museumsbesuch wünsche ich mir keinesfalls eine auf Grautöne reduzierte Welt. Vielmehr wünsche ich mir eine Welt, in der wir sowohl farbenfrohe, sonnige Tage als auch graue, regnerische Tage genießen können – wie Franz Marc, einer der bedeutendsten Maler des Expressionismus in Deutschland, 1911 sagte: „Es gibt keine ‚Gegenstände‘ und keine ‚Farben‘ in der Kunst, nur ‚Ausdruck‘.“